Miye Lee
The Rainbow and the Tides
Farbintensive kreis- bzw. kugelförmige Gebilde tummeln sich neben- und manchmal auch übereinander auf meist quadratischen, stets jeweils monochromen Flächen – offen im Strich der Pinselführung, bisweilen durch „tachistische“ Farbspritzer belebt. Miye Lee fügt ihre neuesten Acrylbilder zudem gerne zu Diptychen zusammen oder hängt mehrere dieser Bilder eng nebeneinander, sodass sich eine Art „Storyboard“ ergibt – ein Storyboard freilich ohne vordergründige Erzählung. Diese scheint primär von der Bewegung abstrakter Form- und Farbelemente zu handeln, wobei Bewegung sowohl innerhalb der jeweiligen Binnenformen als auch (potenziell) über diese hinausgehend stattfindet. So mag sich auch der poetische Übertitel dieser per se ungegenständlichen Kompositionen deuten lassen: als die Farben des Regenbogens, die im Auf und Ab der Gezeiten unterschiedliche Konstellationen eingehen.
Allerdings arbeitet die aus Südkorea stammende Malerin Miye Lee, die in ihrem 21. Lebensjahr zuerst nach München und dann nach Wien kam, wo sie an der Akademie (bei C. L. Attersee) studiert hat, nicht seit jeher abstrakt. Ihre „andere Seite“ ist die der Malerin von Portraits bzw. Köpfen, welche sie nicht nur in geradezu fotorealistischer Präzision, sondern mit zugleich stark zeichnerischem Duktus ausführt. Auch hier arbeitet die Künstlerin in Serien, und auch hier sind die Hintergründe ihrer Motive monochrom-neutral gehalten. Zu ihrer im Jahr 2008 entstandenen Portrait-Serie schrieb Sigrun A. E. Bohle, dass die Künstlerin hiermit „ihre besondere Beziehung zum menschlichen Antlitz belebt“ habe. Und: „Damit spannt sie einen stilistisch weiten Bogen zu ihrem bisherigen Werk und variiert ihr Grundthema vom Einzelwesen in der Masse und ihre prägnanten Kopf-Kreisvariationen auf frappierende Weise.“ Diese hinwiederum nicht rein „figurativ“ gestalteten Kopf-Kreis-Variationen waren der hier genannten Portraitserie also vorangegangen, womit zunächst ersichtlich wird, dass die Malerin weniger den sonst in der Malerei oft üblichen Weg von einer der Wirklichkeit näheren zu einer zur Abstraktion hinführenden „Entwicklung“ geht, sondern dass sie beide Kunstsprachen als gleichwertig erachtet. Von größerer Bedeutung als die „stilistische“ Sprache scheint ihr vor allem das von Bohle genannte „Grundthema“ zu sein, also der Mensch zwischen seiner Position als Individuum und als Teil des gesellschaftlichen Kollektivs. So lautete auch chon der Titel ihres 1999 erschienenen ersten Katalogs: „Das anonyme Gesicht der Masse“. Dazu schrieb Franz Filacher im selben Jahr: „… in diesem Sinne verarbeitet sie auf verschiedenen assoziativen Ebenen ihre Vision der friedlichen Koexistenz von Kulturen und Konfessionen in Form pastoser, schematisierter Arbeiten, fokussiert auf das scheinbar eindimensionale Motiv des Kopfes. Das menschliche Mit- und Nebeneinander äußert sich in Bewegung, Impuls und einem freien Spiel zwischen gesellschaftlicher Dynamik und Indolenz …“
Übertragen auf ihre gegenwärtige Arbeit hat sich das Motiv des Kopfes wohl reduziert auf die hier eingangs genannten rundlichen Farb-Gebilde und -Flecken, die „Dynamik“ in der Korrespondenz dieser Elemente ist aber nach wie vor vorhanden, wenn nicht sogar verstärkt spürbar. Miye Lee selbst spricht von einem „spannungsvollen aber doch harmonischen Gleichgewicht“, in das sie ihre (jetzt „abstrakten“) Farbkompositionen zu bringen trachtet. Noch immer dürfte dabei Gültigkeit haben, was Brigitte Herberstein vor nunmehr zwölf Jahren geschrieben hatte: „Der Bilderzyklus reflektiert philosophische Gedankengänge Miye Lees über die Position des individuellen Einzelmenschen innerhalb der anonymen Masse der Gesellschaft. Die Künstlerin begreift es als Schicksal des menschlichen Individuums, dass dieses als Bestandteil einer Masse selbst nur mehr anonym in Erscheinung tritt.“
Lucas Gehrmann, 2011
opening: 5 May, 6-9pm
exhibition: 6 May – 2 July 2011
prolonged until 3 September 2011